Die neue Spielzeit läuft bereits.
Der VfL Bochum hat im Kader einen großen Umbruch vollzogen. Eine Saison wie im
letzten Jahr soll möglichst vermieden werden. Blaue-weiße Taktikecke hat
zusammen mit Martin Rafelt (MR) von der Spielverlagerung im Exklusivinterview
mit Karsten Neitzel die einmalige Chance, auf diese Saison zurückzublicken und
die Gründe sowie die gewählten taktischen Konzepte zu hinterfragen.
Blau-weiße Taktikecke: Sehr geehrter Herr Neitzel. Vielen Dank,
dass Sie sich die Zeit für uns nehmen. Die Saison begann mit der Ankündigung, mit
einer offensiven Aufstellung und einer frechen Spielweise die TOP 5 der Tabelle
zu ärgern. Wie wollten Sie zusammen mit Andreas Bergmann diese doch recht
unscharfe Vorgabe umsetzen?
Wir haben dazu gezielt die
Spielertypen auswählt, die eine solche freche Spielweise umsetzen können. Während
der Fokus der Viererkette auf dem Verteidigen lag, sollten alle anderen Spieler
bereit sein, in die Räume zu gehen, in denen es kracht. Dazu ist es nicht notwendig,
mit vielen expliziten Stürmern zu spielen. Viel mehr haben wir das Mittelfeld
gezielt offensiv ausgerichtet. Niemand wurde bei eigenem Ballbesitz an seine
Position festgenagelt. Ab dem 3. Spieltag waren mit Ausnahme von Christoph
Kramer alle Spieler eher vom Typ 8er/ 10er und in der Lage, im Zentrum wie auf
den Flügeln für Gefahr zu sorgen. Selbst Christoph ist ein spielender 6er, der
sich über den ganzen Platz bewegen muss. Für eine Rolle als Abräumer, in der er
den Anderen den Rücken frei hält, ist er viel zu offensiv- und laufstark.
Blau-weiße Taktikecke: Sie sprechen die Zusammenstellung von
flexiblen spielstarken Spielertypen im Mittelfeld an. Ich hatte den Eindruck,
dass die Abwehrspieler jedoch häufig lange Bälle über diese Zone hinweg spielten.
Wäre es nicht besser gewesen, den Ball flach ins Mittelfeld zu spielen, um dann
das Spiel dort ins Rollen zu bringen?
Das stimmt schon. Grundsätzlich
ist mir immer der Ball „durchs Loch“ lieber. Damit meine ich einen Ball, der
vom Innenverteidiger durch die beiden pressenden Stürmer hindurch flachs ins
Mittelfeld gespielt wird. Damit nimmst Du sofort zwei Spieler aus dem Rennen.
Die dazu benötigten Leute hatten wir im auch Zentrum. Maltritz und Sinkiewicz
können das definitiv. Die Auslöser für die langen Bälle lagen dann eher auf den
Außenbahnen. Da hatten wir häufig keine gute Spieleröffnung, sondern die Bälle
wurden teilweise auch unkontrolliert nach vorne gespielt. Ein langer Flugball
kann manchmal gezielt genutzt werden, um gewisse Räume schnell zu überbrücken.
Gerade in Spielen wie gegen Aalen oder Regensburg, wo der Gegner tief steht,
ist es aber natürlich das absolut falsche Mittel.
Spielverlagerung: Haben Sie darüber nachgedacht, ob sich auch
mal ein 6er bei den Innenverteidigern den Ball abholen könnte, um das
Aufbauspiel zu stärken?
Doch, wir haben das sogar oft so
gemacht, dass die wir die beiden Innenverteidiger in der Spieleröffnung relativ
eng stehen gelassen haben, damit sich der Sechser halbrechts den Ball holen
kann. In diesen Fällen hat der rechte Außenverteidiger nach vorne geschoben und
der rechte Mittelfeldspieler hat sich im Zentrum angeboten, um die Aufnahme
unserer Spieler durch den Gegner zu erschweren. Das hat meist so lange gut
funktioniert bis die Bälle auf den offensiven Außenbahnen angekommen sind, weil
wir dort zu oft Probleme hatten, uns individualtaktisch aus Engen im
Eins-gegen-Eins zu befreien.
Blau-weiße Taktikecke: Bereits im gewonnen Spiel gegen Dresden gab
es Situationen, in denen im Pressing extrem aufgerückt wurde, so dass es nach
dem Überspielen der ersten Pressinglinie 3:4 oder 4:4 Situationen in der Abwehr gab. Dies ist
dann gegen Paderborn richtig bestraft worden. Wieso haben Sie entscheiden,
darauf zu reagieren, indem sie mit Marc Rzatkowski für Christoph Dabrowski
einen weiteren spiel- für einen kampfstarken 6er bringen?
Insgesamt war es schon so, dass
wir die spielstarke Variante bewusst gewählt haben. Das ist auch etwas, was die
Jungen individuell richtig voranbringt. Je nach Ausrichtung hatten wir 2-3
Spieler im Zentrum. Wenn Du mit einer flexiblen Rollenauslegung spielst, dann
müssen diese Spieler sich abstimmen. Da sage ich nicht: „Du schaltest dich ein
und du sicherst ab“. Je nach Situation
schaltet sich einer ein und der andere positioniert sich schlau in den Räumen,
wo er verhindern kann, dass die Mannschaft ausgekontert wird. Dabei ist eine
direkte Umsetzung wichtig. Bevor der eine nach vorne losrennt, sollte er sich
nicht noch einmal umdrehen müssen und wichtige Sekundenbruchteile verlieren. Da sind klare Ansagen vom Hintermann nötig.
Denn wenn alle gleichzeitig aufrücken, dann haben wir ein Problem.
Ähnliches gilt übrigens für die
Außenverteidiger. Auch diese hatten die Freiheit, sich nach vorne
einzuschalten. Wenn der rechte Außenverteidiger nach vorn schiebt, um durch
Hinterlaufen an die Grundlinie zu kommen, dann wollte ich, dass der linke
Außenverteidiger mithilft, den Rückraum zu sichern. Er sollte nicht auf seiner
Seite verhungern, sondern bis vor die Innenverteidiger einschieben. Ich habe
das in den Gesprächen immer „Parkplatz“ genannt. Leider ist das nicht immer so
passiert.
Ein Punkt, in dem ich jedoch
widersprechen möchte ist, dass wir so euphorisch ins Pressing gegangen sind,
dass wir anschließend Konter in Unterzahl bekommen haben. In den Situationen,
wo wir die Tore bekommen haben, waren wir nie in Unterzahl, eventuell einmal in
Gleichzahl. Wenn ich beispielsweise an Paderborn denke, dann spielen da andere
Dinge eine Rolle. Da stehen wir hinten in einer 6:3-Situation und kassieren
trotzdem ein Tor. Es ist nämlich nicht so, dass eine starke Überzahl gleichbedeutend
mit viel Sicherheit ist. Wenn Du hinten in einer 4:4-Situation stehst, dann
weiß jeder in klaren Mannorientierungen für wenn er zuständig ist. Eventuell brauchst
Du noch einen freien Spieler, der dort aushilft, wo grade Hilfe benötigt wird.
Alles andere ist viel zu viel. Natürlich ist es eine Selbstverständlichkeit,
dass du dabei hinten auch zwei vernünftige Manndecker hast. Marcel Maltritz hat
das ja im Laufe der Saison gut gemacht. Der weiß genau wie er zu stehen hat,
wie er zu laufen hat, wie er den Auftakt zu spielen hat, auch wenn er nicht der
Schnellste ist. Wenn jemand die Situation richtig erkennt, dann macht er den einen oder anderen Meter,
den er langsamer ist, durch andere Stärken wieder wett.
Blau-weiße Taktikecke: Wie würden Sie dieses Experiment abschließend
bewerten?
Das erste Heimspiel gegen Aalen
(0:1) war schlecht. Nach dem 1:0 Auswärtssieg in Regensburg haben wir jedoch
ein geiles Heimspiel gegen 1860 München abgeliefert, was leider nur 0:0
ausging. In Duisburg spielen wir wieder 0:0. Das war zwar okay, Duisburg hätte
auch gewinnen können. Wir hatten aber zum Schluss drei gute Chancen. Das war
unsere Möglichkeit, die Saison in die richtige Richtung zu lenken, indem Du so
ein Spiel einfach mal dreckig auswärts gewinnst. An solchen Kleinigkeiten hängt
es manchmal.
Letztendlich ist es immer eine
Frage des Erfolges. Wir hatten mit der Spielweise in fast allen Spielen die
Großzahl an Torchancen gehabt. Aber da kommen zur Abschlussqualität, die ja
nun mal eine entscheidende Qualität ist. Du musst die Murmel auch einfach mal
ins Netz knallen. Da haben wir uns zu oft schwer getan.
Blau-weiße Taktikecke: Was haben Sie getan, um die Torgefahr zu
erhöhen und die Mannschaft nach den sieglosen Spielen zu motivieren?
Hier muss gesagt werden, dass wir
zu Beginn der Saison aufgrund der Verletzung von Mirkan Aydin mit sehr
beweglichen Stürmern gespielt haben, die sich gern ins Mittelfeld oder auf die
Flügel bewegen. Insbesondere Zlatko Dedic spielt eigentlich lieber um eine
echte Sturmspitze herum. Um trotzdem die wichtigen Läufe in die Spitze zu
forcieren, haben wir gezielte Videoanalysen und ausgewählte Spielformen im
Training verwendet. Dabei ging es um Positionswechsel und das gezielte
Hinterlaufen auf den Flügeln. So wollten wir diese freche Spielweise
verinnerlichen und positiv verstärken.
Blau-weiße Taktikecke: Und als auch das nicht die direkten
Erfolgserlebnisse gebracht hat?
Wir haben dann am 9. Spieltag
gegen Braunschweig Lukas Sinkiewicz statt Christoph Kramer auf die 6er-Position
gestellt, um wieder mehr Stabilität in die Mannschaft zu bringen. Er gab den
typischen Abräumer und hat den Kreativen den Rücken freigehalten. Das hat auch
direkt geholfen. Wir spielen Braunschweig 20 min an die Wand, bis wir dann
durch ein klares Foul an Andreas Luthe den Gegentreffer bei der besten
Kontermannschaft der zweiten Liga kassieren, was letztendlich zum 0:3 führt. Am
10. und 11. Spieltag musste er wegen der Daumen-OP von Marcel Maltritz wieder
in die Abwehr und am 13. Spieltag war er gelbsperrt. Ansonsten hat er bis zum
16. Spieltag alle Spiele gemacht. Das hat eigentlich ganz gut funktioniert.
Blau-weiße Taktikecke: Danach wurde die Ausrichtung der Mannschaft deutlich angepasst. Im Interview mit der Westline (ca. 5:30 min) haben sie gesagt, dass diese Umstellung zu einer etwas tieferen Aufnahme des Gegners den Spielertypen von der taktischen Grundausrichtung entgegengekommen ist. An welche Spielertypen haben sie in
diesem Interview insbesondere gedacht?
Da gab es mehrere Faktoren. Zuerst
wollte ich Christoph Dabrowski neben Christoph Kramer einsetzen und Sinkiewicz
wieder in die Abwehr stellen. Dieser hatte jedoch in den ersten beiden Spielen
aufgrund seiner Geschwindigkeit Probleme mit der gestreckten offensiven
Formation. Ihm kommt es extrem entgegen, wenn die Mannschaft tief und kompakt
steht, wenn die Wege zum nächsten Zweikampf kurz sind. Dann kann er auch seine
Stärken ausspielen. Da gleichzeitig Mirkan Aydin langsam fit wurde, konnte ich
auf ein direkteres Spiel umstellen und Zlatko Dedic ideal einsetzen. Beide waren
das erste Mal am 17. Spieltag gegen Union Berlin wieder in der Startformation.
Die folgenden Ligaspielen gegen Dresden und Paderborn sowie das Pokalspiel
gegen 1860 München haben wir alle gewonnen und dabei 10:0 Tore erzielt. Wir
standen stabil und darüber hinaus haben wir auch noch guten Fußball gespielt. Da
spielt natürlich auch rein, dass wir in Dresden die ersten 20 min richtig Dusel
gehabt haben. Da kannst du auch schnell 0:2 hinten liegen. Wir gewinnen dann
3:0, trotz knapp 60 min in Unterzahl. Das gab deutlich mehr Sicherheit für die
kommenden Spiele.
Blau-weiße Taktikecke: Wieso konnte diese Form nicht über die
Winterpause konserviert werden?
Naja, wir gehen in den Urlaub und
Christoph Dabrowski bricht sich das Schlüsselbein. Dann musst du den Haufen
wieder umstellen. In der Innenverteidigung hat sich in der Vorbereitung die
Kombination aus Lukas Sinkiewicz und Marcel Maltritz als das Pärchen
herausgestellt, das am meisten Sicherheit ausstrahlt. In der Innenverteidung
ist es wie bei den Torhütern. Du darfst Dir einfach keine Fehler erlauben, da
jeder Fehler direkt in einem Gegentor enden kann. Da habe mich dann dafür
entschieden, Marcel und Lukas zusammenzulassen und mit offensiveren
Spielertypen in der tieferen Grundausrichtung anzutreten. So kam Michael Ortega wieder in die
Mannschaft, der eine richtig gute Vorbereitung gespielt hat.
Blau-weiße Taktikecke: Diese Idee ging leider nicht so richtig auf.
Die ersten beiden Spiele gegen Aalen und Regensburg konnten nicht gewonnen
werden. Woran machen Sie das fest?
Wir haben gegen Mannschaften, die
selbst reaktiv spielen, zu passiv agiert. Gegen Regensburg habe ich die Jungs
mit der gleichen defensiven Ausrichtung rausgeschickt wie gegen Aalen. Auswärts
beim Tabellenfünften war ich mit einem Unentschieden zufrieden. Gegen
Regensburg hätte ich sie jedoch sofort richtig vorne draufjagen müssen. Das würde
ich heute anders entscheiden. Beim Pressing ist es wichtig, dass alle Spieler
mitmachen. Sobald einer nicht mitzieht, kannst Du es sofort vergessen. Das
haben wir im Nachgang des Regensburg-Spiels gut analysiert und im nächsten
Spiel gegen 1860 München gut umgesetzt.
Blau-weiße Taktikecke: Was haben Sie dort genau geändert?
Aufgrund der kurzfristigen
Erkältungen von Leon Goretzka und Alexander Iashvili spielten Kevin Scheidhauer
und zum ersten Mal seit einem Jahr wieder Faton Toski in der vordersten
Pressinglinie. Die beiden haben ganz konsequent die beiden Innenverteidiger
angelaufen, zumindest so lange wie wir noch in Gleichzahl waren. Sie haben das
mit den Anderen gut abgestimmt und sich die richtigen Momente dafür ausgesucht.
Das Pressing haben wir diese 18 min fast perfekt gespielt. Wir sind dann 1:0 in
Führung gegangen, vorher standen wir schon alleine vorm Torwart. Trotz der
langen Zeit in Unterzahl war der Sieg verdient.
Blau-weiße Taktikecke: Sie erwähnen die Spieler als
Schlüsselfiguren. Inwieweit war dieses Pressing eintrainiert? Oder ist das
einfach intuitiv aus der Situation entstanden?
Beides. Faton hat das aber in
dieser Phase richtig gut gemacht. Er hat als Spielertyp schwimmende zweite
Spitze die Innenverteidiger richtig gut angelaufen, in München zwar nur eine
Halbzeit – aber halt so lange die Kraft reichte. Dann noch zu Hause gegen
Duisburg und Braunschweig sowie in Kaiserslautern. Das sind auch Dinge, die
trainierst Du natürlich. Das ist eine Gruppentaktik beim Anlaufen, aber auch
eine Mannschaftstaktik beim Nachschieben. Wir haben uns trotz eines durch
Verletzungen eng definierten Kaders für die Variante entschieden drauf, drauf,
drauf, Anlaufen und Nachschieben. Das haben wir gut gemacht. In diesen Spielen
hätten wir die 9 Punkte verdient gehabt. Zu Hause gegen Duisburg spielen wir eine richtig
geile zweite Halbzeit, drehen einen 0:1 Rückstand. Beim Stand von 2:1 schießt Leon
Goretzka an den Innenpfosten. Dann kommt Timo Perthel und haut uns in der 90
min aus über 20 m mit seinem rechten Fuß das Ding in den Knick rein, es steht
2:2 (Anm.: Perthel ist eigentlich Linksfuß). Kaiserslautern hat aus dem Spiel
heraus nur eine Torchance am Ende der ersten Halbzeit. Wir jedoch laufen zwei
Mal allein auf Tors zu und schaffen es leider nicht, den Ball im Netz zu
versenken. Bei unserem regulären 1:0 wird Abseits angezeigt. Wie ich nachher in
den Fernsehbilder gesehen habe, war das nicht knapp, sondern 1,5 m kein
Abseits. Das Spiel gegen Braunschweig ist eigentlich ein klares Dingen für uns,
wir verlieren es aber 0:1. Dazwischen war das Spiel gegen Ingolstadt, wo wir
zwei unfassbare Gegentore bekommen, in denen sich der gesamte
Mannschaftsverbund im Zweikampfverhalten schlecht angestellt hat. Auch da war
ansonsten mindestens ein Punkt drin, auch da haben wir eine gute zweite
Halbzeit gespielt – wenn wir jetzt mal die Gegentore ausklammern. Das waren Spiele,
wo wir gut bis sehr gut gespielt aber eindeutig zu wenig Punkte geholt haben.
Wo wir wieder bei den entscheidenden Kleinigkeiten und der Abschlussschwäche wären.
Blau-weiße Taktikecke: Kommen wir noch einmal auf das Pressing zu
sprechen. Sie nennen explizit Faton Toski. Mir ist damals insbesondere
Christoph Kramer aufgefallen. Inwieweit ist so jemand, der einfach auch mal 30
m auf einen Gegenspieler zu sprintet und den Ball dann noch koordiniert
gewinnt, für das offensive Pressing wichtig? Hatte er als Initiator eine
Schlüsselrolle im Pressing oder wirkte dies nur aus der Situation so?
Diese Dinge entscheiden schon die
Spieler: Wann geht es los? Wie wird rausgeschoben? Christoph schwimmt da
mittendrin. Grad die zentralen Mittelfeldspieler müssen da ganz schnell den
richtigen Gegenspieler finden. Das ist natürlich aus der Sicht von oben viel
leichter zu erkennen als jetzt auf dem Feld. Grade Christoph hat die Stärke,
dass er ganz schnell den richtigen Gegenspieler findet, wobei er auch schnell
von seinem aktuellen Gegenspieler weggeht, was nicht immer richtig sein muss.
So kommt er dann in 2:1-Situationen, in welchen er die Bälle oft gewinnen kann.
Christophs Schwäche ist jedoch, dass er häufig ganz hart anläuft und nicht
rechtzeitig 2-3 m vorm Gegenspieler das Tempo rausnimmt. Das ist ein Ding, das
hat er so lange ich für die Mannschaft verantwortlich war noch nicht richtig
hinbekommen. Dabei ist er ein Typ, der sich sehr intensiv mit der eigenen und
der Mannschaftsleistung auseinandersetzt, der sich die Dinge noch einmal
anschaut. Er hat schon ganz viele Dinge als junger Spieler richtig erkannt.
Unabhängig von seinem Alter hat es immer Spaß gemacht mit Christoph über
Fußball zu sprechen.
Blau-weiße Taktikecke: Hierzu noch eine Frage etwas außerhalb des
Kontexts. Was erwarten sie von dem Wechsel Christoph Kramers zu Borussia
Mönchengladbach? Es ist ja schon interessant, dass ein von seinem Aktionsradius
und seiner Zweikampfführung extrem weitreichender Spieler jetzt ins das
positionsorientierteste System der Bundesliga wechselt. Glauben sie, dass er
davon profitieren kann oder dass es eher zum Problem wird?
Da bin ich selbst gespannt. Ich
glaube Lucien Favre ist ein sehr guter Trainer, der auch total ins Detail geht,
bei den Dingen, die er im Training vermittelt. Ich habe bisher nur gute Dinge
über ihn gehört. In Bezug auf Christoph glaube ich schon, dass er davon
profitieren wird. Für mich ist nur interessant, zu sehen wie viel Einsatzzeiten
er bekommt bei einer Mannschaft wie Borussia Mönchengladbach, die natürlich
ganz andere Ziele hat als der VfL Bochum. Ich befürchte, dass es für Christoph als
6er in der ersten Liga noch etwas zu früh ist. Ich hoffe, dass ich mich
täusche. Er braucht dort eher noch einen hinter sich, so als offensiver Part
einer Doppelsechs. Aber dafür ist er wohl noch nicht torgefährlich genug. Es
wird echt spannend, zu sehen wie er sich jetzt unter einem anderen Trainer
entwickelt. Es lohnt sich da zuzuschauen und den Weg weiterzuverfolgen.
Blau-weiße Taktikecke: Nach dem Heimspiel gegen Braunschweig kam das Spiel in Berlin. Was war die Idee dahinter, Leon Goretzka in diesem Spiel auf der Höhe des Stürmers spielen zu lassen?
Er hat in diesem Spiel die Rolle
übernommen, die vorher Faton Toski so ordentlich gespielt hat. Ich habe mit
Leon in der Woche davor gesprochen, ob er sich diese Rolle zutraut. Mein
Gedanke war es, in Berlin die Bälle mit der gleichen Aggressivität im hohen
Pressing zu gewinnen wie gegen Kaiserslautern. Gewinnt Goretzka in diesen Zonen
den Ball, dann hat er mit seinem starken Eins gegen Eins einen kurzen Weg zum
Tor. Selbst wenn wir die Bälle nicht direkt erkämpfen, reicht es aus,
unkontrollierte Bälle zu erzwingen, so dass du es als verteidigende Mannschaft
einfacher hast, die Bälle abzufangen. Leider sind wir aufgrund der
individuellen Klasse der Berliner gar nicht erst in diese Situationen gekommen.
Wir haben im ganzen Spiel glaub ich nur einen Ball im Berliner Drittel erobert.
Dadurch ist diese Entscheidung dann nach hinten losgegangen. Für unser eigenes
Spiel war das sicherlich nicht hilfreich. Wir haben nicht gut gespielt, das 0:2
ging vollkommen in Ordnung.
Blau-weiße Taktikecke: Es ging also nur darum, die Zweikampf- und
Abschlussstärke von Leon Goretzka im Pressing zu nutzen. Er sollte nicht
aufgrund seiner Größe als Zielspieler für lange Bälle agieren?
Nein, das war überhaupt nicht
geplant. Das kannst du nicht innerhalb von 5 Tagen der Mannschaft verordnen. Er
hat zwar ein gutes Kopfballspiel, ist aber nicht der Typ, der sich dauerhaft
gegen zwei gestandene Innenverteidiger in der Luft durchsetzen kann.
Blau-weiße Taktikecke: Inwieweit würden sie psychologische Gründe für
die schlechte Leistung im folgenden Spiel gegen Aue anführen. Es fiel auf, dass
die Spieler in Überzahlsituationen dumme Fouls begehen, in deren Folge die
Mannschaft dann die Gegentreffer per Freistoß bekommt.
Gegen Aue war es dann so, dass
Aue 5 Punkte weg wäre, wenn wir das Spiel verlieren. Sechs Spieltage vor
Schluss sind sie dann auch nur noch schwer zu holen. Dann hast du den Druck,
dich in der Tabelle hocharbeiten zu müssen. Sowas ist nie gut. So kommt es
dann, dass selbst erfahrene ehemalige Nationalspieler einfache Fehler machen.
Aber da bin ich den Spielern nicht böse, das ist halt im Fußball so. Da kam
dann alles zusammen.
Spielverlagerung + Blaue-weiße
Taktikecke: Vielen Dank für das nette
Gespräch und die ausführliche Beantwortung unserer Fragen. Wir wünschen Ihnen
für Ihre Zukunft in Kiel alles Gute!
Danksagung und Ankündigung
Vielen Dank an Volker
Rothenhäusler und Martina Gemp für die Herstellung des Kontakts sowie an Martin Rafelt für die Unterstützung bei der technischen Umsetzung und bei der Durchführung des Interviews. Im Rahmen des Interviews mit Karsten Neitzel wurden auch der Übergang vom Spieler zum Trainer, seine allgemeine taktische Philosophie sowie die neue Aufgabe bei Holstein Kiel thematisiert. Diese Inhalte werden in der nächsten Ausgabe des Magazins Ballnah erscheinen.